Nun in Österreich zu sehen: In “Schnee Weiß” thematisiert Elfriede Jelinek den Missbrauch im Skiverband.
Wenn man sich in Österreich schon so lange Zeit lässt, muss zumindest der Premierentermin gut koordiniert sein. Vor etwa fünf Jahren hat die ehemalige Skirennläufern Nicola Werdenigg über Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt im österreichischen Skiverband in den 1970er- und 1980er-Jahren sowie von Vergewaltigungen gesprochen. Ein Jahr später erschien ein Theaterstück zum Thema. „Schnee Weiß (Die Erfindung der alten Leier)“ von Elfriede Jelinek wurde am Schauspiel Köln uraufgeführt. Bevor nun ein Film über Werdeniggs Schritt an die Öffentlichkeit samt Reaktionen in die Kinos kommt, ist das Musterbeispiel für Doppelmoral, die, so nicht nur Jelinek, im katholischen Umfeld besondere Ausprägung erfährt, auch österreichischen Bühnen ein Anliegen. Das Tiroler Landestheater hat die Erstaufführung zudem an jenem Wochenende angesetzt, an dem sich der Blick vieler auf den nicht weit von Innsbruck entfernten Ort Kitzbühel richtet.
Am Beispiel des Hahnenkammrennens lassen sich ein Sachverhalt und kulturelle Defizite anschaulich bündeln: In der Medienöffentlichkeit wird der sportlichen Leistung eines Menschen ein Vielfaches jener Aufmerksamkeit zuteil, die intellektuellen Fähigkeiten zukommt. In „Ein Sportstück“, uraufgeführt 1998 am Wiener Burgtheater, gelingt es Jelinek, in der Komplexität dieser Thematik den Aspekt der Massenhysterie und Gewalt zum Ausdruck zu bringen. „In den Alpen“ (uraufgeführt 2002) und „Schnee Weiß“ sind im Grunde Wiederholungen, auch wenn darin Vorfälle wie das Unglück von Kaprun mit 155 toten Skisportlern sowie die erwähnten Übergriffe und Vergewaltigungen aufploppen.
Eine Bemerkung: Wer die Premiere von “In den Alpen” am Zürcher Schauspielhaus besuchte, vernahm im Publikum Unterhaltungen in schwedischer Sprache. Eine Delegation war zu Besuch. Wenig später wurde der österreichischen Autorin der Literaturnobelpreis zugesprochen.
Motive aus „Das Liebeskonzil“
Der Literaturnobelpreisträgerin ist die Mehrfachbehandlung des Materials selbstverständlich bewusst, der Untertitel „Die Erfindung der alten Leier“ bezeugt ihre Selbstironie und verweist im Epilog auf die Mahner von der Antike bis zur Literatur sowie wissenschaftlichen Texten im 19. und 20. Jahrhundert.
Die Verwendung von Motiven aus Oskar Panizzas „Das Liebeskonzil“ hat in Tirol eine besondere Bewandtnis, denn noch im Jahr 1992 war Dominique Mentha mit Anzeigen konfrontiert, als er das Stück zu Beginn seiner Intendanz in Innsbruck ansetzte. Vor dem Theater gab es Proteste, drinnen Lacher, wie sie auch jetzt zu hören waren, wenn Jesus (hier mit Dornenkrone und Kreuz) davon spricht, dass in seiner Kirche die Männer oben sitzen oder wenn er zum Schluss kommt, dass sich das Frauenbild in seiner Religion nicht groß verändert hat – „es ist noch immer klein“.
Landschaft aus Brust, Gesäß und Beinen
„Eine Beziehung zu einer 14-Jährigen sollte nicht eingefädelt werden, man sollte zwar nicht am Tor vorbeifahren, aber eben auch nicht einfädeln“: Die Kontextverschiebungen in den Stücken von Elfriede Jelinek zu bewältigen, ist stets Aufgabe der Regie. Joachim Gottfried Goller steht in Innsbruck ein Ensemble mit heterogenen sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung. Es trübt den Anfangsmonolog bzw. den Prosateil ein, wenn Janine Wegener geraume Zeit frontal ins Publikum spricht und dabei keine Möglichkeit hat, den Text vibrieren zu lassen. Schon der Engel von Christina Constanze Polzer, der Jesus von Ulrike Lasta oder Gottvater von Stefan Riedl hat farbige Nuancen und lässt Jelineks Alliterationen und Überblendungen ausschwingen.
Was der Inszenierung zugute kommt, ist der Verzicht auf Körpereinsatz auf Pisten oder in Betten. Eine Landschaft aus Brust, Gesäß und Beinen ist in der Ausstattung von Julia Neuhold zwar da, wirkt als an sich realistisches Bild aber derart entrückt, dass sich Vielschichtigkeit trotz der optischen Eindeutigkeit zeigt.
Das ist nicht immer so, denn beim Intro mit einer brennenden Fackel und dem Auftritt von Bacchantinnen mit aufgespießter Kopftrophäe (als Verweis auf die Psychoanalytikerin Marie Bonaparte) und dem Putz von Kühen beim Almabtrieb macht sich nicht nur arg viel Bühnennebel, sondern auch Pathos breit. In den weiteren Szenen hat das Team das gewählte Lokalkolorit im Griff. Weder die Einblendung von Bauernmalerei auf dem Bühnenrahmen, noch Projektionen früherer Skirennen oder Figuren, die der Illustration einer Kinderbibel entstiegen sind, erzeugen Harmlosigkeit. „Männer an die Wand zu nageln, macht sie nur populärer“, sagt Jesus.
Gottvater resigniert. Dies Jelinek ob der thematisierten Überheblichkeit, Dummheit und Menschenverachtung zuzuschreiben, dagegen verwehrt sich Joachim Gottfried Goller. Mit Erfolg. Es könnte schulmeisterlich wirken, wenn er vom Unterschied zwischen Flirt und Belästigung sprechen lässt sowie dem Ensemble reihum die unterschiedliche Betonung des Begriffs Frausein abverlangt. Das passiert aber nicht.
Christa Dietrich