Opernstudio par excellence: Im Bregenzer “Werther” wird Charlotte von lästigen Konventionen befreit
Der Titel der Oper könnte auch „Charlotte“ lauten. Die Partitur von Jules Massenets „Werther“ würde es erlauben und die Inszenierung von Jana Vetten sowieso. Selbst die Aufnahme des Werks in das kompakte Programm der Bregenzer Festspiele lässt diesen Schluss zu. Cio-Cio-San in Puccinis „Madame Butterfly“, der Opernproduktion auf dem See, ist Opfer des Patriarchats, das auch die Protagonisten in Verdis „Ernani“, der heurigen großen Produktion im großen Haus, längst etabliert haben. Unglücklich macht es sie dort alle, unglücklich macht es auch Charlotte, die dem Narzissten Werther nicht gewährt hat was er begehrt, weshalb er sich umbringt.
Freilich war man anno 1892 noch nicht erpicht auf diese Sichtweise. Weil Goethe nach „Faust“-Adaptierungen für die Musiktheaterbühne gerade hoch im Kurs war, entschieden sich Massenet und seine Librettisten für den gut hundert Jahre zuvor erschienenen Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“, konzentrierten sich auf den unglücklich verliebten Rechtspraktikanten und veränderten dabei – nach einem beliebten Sujet des 19. Jahrhunderts – die Figur der Charlotte, die hier der Pflicht folgt und nicht der Liebe, dem Sterbenden dann aber ihre Gefühle gesteht.
Jana Vetten rückt die Empfindungsskala wieder etwas zurecht. Charlotte ist an Werther nicht sonderlich interessiert, zumindest nicht an dessen Gefühlen, bestenfalls an seinem Intellekt. Zuneigung ist okay, Leidenschaft nicht. Das Konzept verlangt ein konzentriertes Spiel, das das Ensemble bietet. (Opernstudioarbeit par excellence!) Um dies auch noch im dritten Akt zu vermitteln, braucht es allerdings eine Charlotte mit der nicht nur vielzitierten hochdramatischen Kraft, sondern auch eine mit besonderer Herbheit. Die kanadische Mezzosopranistin Kady Evanyshyn ist in der Lage beides im richtigen Moment abzuliefern. Eine enorme Leistung. Dazu kommt mit Raul Gutierrez ein Tenor mit einer prachtvollen Höhe und einem guten Gespür für die Melancholie in der Partie des Werther. Dass mit der stimmlich wie darstellerisch guten Präsenz von Sarah Shine als Sophie so viel Helles, Positives in das Geschehen kommt, tut der Produktion mit ihrer sehr guten weiteren Besetzung gut.
Die Ausstattung von Camilla Hägebarth mit einer Art begehbarem, aufsteigenden Reif erinnert mich ein wenig an die „Werther“-Inszenierung von Felix Rothenhäusler auf einer weißen Scheibe von Katharina Pia Schütz an der Oper in Stuttgart. Während dort nach einigem Aufblättern psychologischer Verfasstheit konstatiert wurde, dass Massenet letztlich das Sentimentbedürfnis des damaligen Publikums bis hin zum Kitsch bediente, will Jana Vetten den Schmerz der Hinterbliebenen beleuchten. Zumindest so weit es geht. Mit viel hautfarbenem Stoff wird verdeutlicht, dass sich Werther an sich nach mütterlicher Geborgenheit sehnt, die er auf die starke, durchsetzungsfähige Charlotte projiziert. Eingehüllt in den Stoff stirbt er, während sein Umfeld im stummen Schrei erstarrt.
Zu Beginn lesen Kinder aus gesammelten Abschiedsbriefen. Man braucht den Wortlaut nicht zu verstehen, es ist ein kleiner Hinweis auf die Herangehensweise in dieser Produktion, in der mit Akzenten in den Kostümen, die von der Goethezeit bis ins Heute reichen, darauf verwiesen wird, dass sich Werther an sich in einer Gesellschaft befindet, der Hedonismus nicht fremd ist. Hier ließe es sich also leben und hier wäre – der auch im Libretto aufscheinende, romantische Mond beweist es – ohnehin noch Platz für Träume.
Dass sich die Figuren, die sich auf diesem Reif mitunter wie Tanzende ausmachen, oft etwas gegen die Musik zu bewegen haben, wurde schon erwähnt. Es funktioniert und es treibt das handlungsarme Werk auch voran. Dirigentin Claire Levacher erreicht mit dem Symphonieorchester Vorarlberg (dieses Mal mit Konzertmeisterin Monika Schuhmayer) eine gute Farbigkeit, versteht auch das Sentiment zu bremsen. Dass der harte Klang mitunter das leise Leuchtende überdeckt, mag auch an der Akustik des Hauses liegen, die die feinen Stimmen im von Wolfgang Schwendinger gut einstudierten Kinderchor der Musikmittelschule Bregenz-Stadt beinahe schluckt.
Den Premierenjubel darf man auch als Aufforderung verstehen, die Produktion im Kornmarkttheater, in dem Elisabeth Sobotka dieses Opernstudio eingerichtet hat, im Programm zu behalten. Auch nach 2024, wenn die Bregenzer Intendantin die Staatsoper Berlin übernimmt.
Christa Dietrich