Oper pur: „Liebesgesang“ von Georg Friedrich Haas in Bern uraufgeführt
Wenn Georg Friedrich Haas Opern schafft, sind die Themen existenziell. Von nichts wenigerem als von Geburt und Tod handelt sein 2015 in London uraufgeführtes Werk „Morgen und Abend“, dessen österreichische Erstaufführung erst vor gut zwei Jahren in Graz stattfand. Wie bei „Melancholia“ arbeitete er für diese Oper mit dem norwegischen Schriftsteller und Dramatiker Jon Fosse zusammen. „Bluthaus“, „Thomas“ und „Koma“ entstanden in Kooperation mit dem Österreicher Händl Klaus. Diese bei den Schwetzinger Festspielen uraufgeführten Werke sind in der Hör- bzw. Erfahrbarmachung menschlicher Empfindungsspektren derart konkret, dass sie eine Sonderstellung im gesamten Genre einnehmen.
Dasselbe gilt für „Liebesgesang“, dem soeben im Theater Bern uraufgeführten neuen Werk. Die schon im konventionell ausgeschmückten Foyer des Historismusgebäude wahrzunehmende Frage, ob es sich hierbei denn überhaupt um eine Oper handelt, ist zulässig. Haas verzichtet komplett auf jegliches Orchester bzw. überhaupt auf Instrumente und entspricht dem Werktitel in absoluter Kompromisslosigkeit. Für „Liebesgesang“ braucht es nämlich nur die Stimme einer Mezzosopranistin und eines Baritons – und sonst nichts. Für die beiden beutetet das jedoch enorm viel und nach 90 Minuten war nicht nur ich überzeugt, dass ich ein intensives, neues Musiktheater erlebt habe und dass mir Einblicke in die Beziehung zwischen zwei Menschen gewährt wurden, die so weit gehen, wie ich es auch in den zeitgenössischen Werken dieses Genres kaum erfahren konnte.
Kompromisslos eben und in den Gesangslinien so auf das Wesen von Bindungen hingearbeitet, dass kein Voyeurismus aufkommen kann. Selbst dann nicht, wenn Tobias Kratzer, der Regisseur, und Rainer Sellmaier, der Ausstatter, das Publikum konkret in die Beobachtersituation drängt. Das Parkett bleibt leer, nur die Ränge werden verkauft, auf der eigentlichen Bühne befindet sich eine Zusatztribüne. Die beiden Protagonisten agieren im weiß ausgekleideten Orchestergraben. Er, ein ehemaliger Tierfilmer, hat sich zurückgezogen, ist kaum noch kommunikationsfähig, sie, eine Architektin, ist der aktive Part in diesem Ringen um gegenseitiges Verstehen. Beide Künstler, Claude Eichenberger sowie Robin Adams haben die Bandbreiten der Stimmen sowie die Möglichkeiten des Singens auszuloten. Dass der Text manchmal kaum erfassbar ist, beeinträchtigt diese auch in der Personenregie klischeefrei ausgearbeitete Auseinandersetzung mit der Intimität einer Paarbeziehung nicht. Lange war Oper auch Pathos, hier ist sie pur, pur gesungen, pur gespielt – und neu.
Weitere Aufführungen von “Liebesgesang” von Georg Friedrich Haas am Theater Bern finden ab 8. Juni statt.